Jugend vor Gericht: Sinn und Grenzen von Strafe

Shownotes

Darum geht`s in dieser Episode

Bei der Live-Veranstaltung am 12. November 2025 in Karlsruhe ging es bei „Let’s Talk About Recht“ mit Dr. Alessandro Bellardita um den Sinn und die Grenzen von Strafen bei jungen straffälligen Menschen. Der Jugendstrafrichter und Autor gibt Einblicke in seinen Richteralltag, spricht über Grenzen und Chancen des Systems und über aktuelle Debatten, wie die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters oder den Vorwurf, dass Urteile zu milde seien. Gemeinsam mit Anna Nübling von der Stiftung Forum Recht ließ Alessandro Bellardita den Gerichtssaal am 12. November gedanklich öffnen – für Einblicke in die Praxis und auch für die große Frage, was eigentlich der Sinn von Strafe ist. Das Publikum war herzlich eingeladen, mitzudiskutieren und eigene Fragen einzubringen. Das Gespräch ist jetzt hier im Live-On-Tape-Podcast zu hören!

Für mehr Informationen über uns und spannende Einblicke ins Recht folgt uns auf Instagram: @stiftungforumrecht. Oder besucht uns auf unserer Website.

Moderation: Dr. Anna Nübling, Stiftung Forum Recht

Produktion und Redaktion: Das Team der Stiftung Forum Recht

Warum wir darüber sprechen

Juristische Themen haben oft das Image, schwer verständlich und hoch kompliziert zu sein. Dabei gehen viele Fragen des Rechts uns alle etwas an. Die Meinungsfreiheit zum Beispiel: Sie ist ein Grundrecht, das allen Bürger:innen in Deutschland entsprechend unserer Verfassung zusteht. Warum kommt es dennoch vor, dass Gesetze erlassen werden, die dieses Grundrecht unter bestimmten Bedingungen einschränken?

Abwechselnd an den beiden Stiftungsstandorten Leipzig und Karlsruhe sowie zu stets wechselnden Themen laden wir alle interessierten Menschen ein, über Gesetzgebung, Rechtsausübung und Rechtsschutz zu diskutieren. „Let’s Talk About Recht“ bietet Einblicke in verschiedene Bereiche des Rechts und des Rechtsstaats und zeigt anhand von Beispielen aus der Praxis, wo und wie sie im Alltag wirken und welche Bedeutung sie für unsere Gesellschaft haben.

Shownotes

Mehr Informationen zum Gast: https://stiftung-forum-recht.de/kalender/lets-talk-about-recht-die-interaktive-gespraechsreihe-2/

Die komplette Studie der Uni Köln zur Jugendkriminalität in Nordrhein-Westfalen, über die wir in dieser Folge diskutieren, könnt ihr hier nachlesen: https://www.im.nrw/system/files/media/document/file/250703berichthellfeld.pdf

In dieser Folge wurde auch die Diskussion zur Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters in Schweden angesprochen. Wenn ihr mehr dazu erfahren möchtet, bekommt ihr in diesem Artikel genauere Informationen zum Thema und einen Überblick über die Regelungen in anderen EU-Ländern. https://www.dw.com/de/schweden-jugendliche-gefaengnis-haft-13-j%C3%A4hrige/a-74667637

Transkript anzeigen

Let`s Talk About Recht - Der Live-on-Tape Podcast zur GesprächsreiheFolge #8: Jugend vor Gericht: Sinn und Grenzen von Strafen

Transkript

Marie-Elisabeth Miersch:

'Let's Talk About Recht' der Life-on-Tape Podcast zur Gesprächsreihe der Stiftung Forum Recht. Wir sprechen mit unseren Gästen überspannende Rechtsthemen, die ihnen in ihrer täglichen Arbeit begegnen und uns alle etwas angehen.

Anna Sophia Nübling:

Schön, dass Sie an diesem dunklen und kalten Novembertag zu uns gefunden haben in die Stiftung Forum Recht. Mein Name ist Anna Sophia Nübling. Ich leite hier den Bereich Programm und Veranstaltung und ich vertrete heute meine Kollegin Marie-Elisabeth Miersch, die normalerweise die Gespräche dieser Reihe, in der wir hier sprechen, Let's Talk About Recht moderiert und die heute leider verhindert ist. Wir sprechen bei der heutigen Ausgabe von "Let's Talk About Recht" über das Strafrecht, über Jugend vor Gericht und über den Sinn und Grenzen von Strafen. Und das können wir tun mit einem Gast, der dieses Feld aus seiner täglichen Praxis sehr gut kennt und der es schafft, Recht nicht nur zu sprechen, sondern es auch zu erklären, zu erzählen, zu übersetzen. Ich darf Ihnen ganz herzlich vorstellen den Vorsitzenden Richter des Jugendschöffengerichts am Amtsgericht Karlsruhe, Dr. Alessandro Bellardita. Herzlich willkommen. Schön, dass wir heute Abend mit Ihnen sprechen können.

Alessandro Bellardita:

Dankeschön.Anna Sophia Nübling:

Bevor wir ins Gespräch einsteigen, noch ein paar kurze Worte für Sie zur Orientierung. Wir sagen das öfter dazu. Diese Veranstaltung richtet sich, wie alle unsere Angebote bei der Stiftung Forum Recht, nicht an ein juristisches Fachpublikum, sondern an alle Interessierten. Deshalb werde ich auch in der Rolle der Moderation, auch als selbst Nichtjuristin, immer mal wieder nachfragen bei juristischen Begriffen und möglicherweise komplizierten Sachverhalten, wobei ich glaube, dass das bei unserem heutigen Gast gar nicht so notwendig sein wird wie bei manch anderen. Und weil wir Sie auch schon während des Gesprächs zwischen uns beiden aktiv einbinden möchten, finden Sie Abstimmungskarten auf Ihren Sitzen mit Ja und Nein und da werde ich Sie dann zu gegebener Zeit einladen, sich über diese Karten am Gespräch zu beteiligen. Bevor wir mit dem Gespräch starten, möchte ich Ihnen zunächst noch Herrn Bellardita etwas näher vorstellen. Herr Bellardita, Sie sind geboren in Modica in Sizilien. Ihre Eltern sind Anfang der 1980er Jahre ausgewandert. Sie sind nach Karlsruhe gezogen und dort auch aufgewachsen. Haben dann später in Mannheim und Heidelberg Rechtswissenschaften studiert. 2010 promoviert zu einem Thema im Bereich internationales Handelsrecht, waren dann mehrere Jahre als Rechtsanwalt tätig und sind 2012 in den Justizdienst gewechselt. Waren da unter anderem tätig als Staatsanwalt im Bereich organisierte Kriminalität und sind seit 2017 Richter in unterschiedlichen Funktionen, aktuell und seit einiger Zeit eben Vorsitzender des Jugendschöffengerichts am Amtsgericht Karlsruhe. Und interessant ist da vielleicht, dass das ja eine besondere Konstellation ist, in der Sie da Recht sprechen, nämlich gemeinsam mit Nichtjurist:innen, mit Bürger:innen, die sozusagen mit Ihnen da gemeinsam die Fälle aushandeln. Und ich bin noch nicht ganz fertig mit der Vorstellung, denn Ihre Tätigkeiten sind vielfältig. Sie schreiben auch als freier Publizist für journalistische Texte für italienische und deutsche Zeitungen, Zeitschriften. Sie wirken mit an TV und Radiosendungen, an Podcasts, sie halten Vorträge, unterrichten und sie schreiben Bücher, unter anderem Kriminalromane. Erst letztes Jahr ist ihr Kriminalroman "Die sizilianische Akte" erschienen, in dem es um das Thema Mafia in Deutschland geht, auch eines ihrer großen Themen. Und im Vorgespräch haben Sie erzählt, dass Sie das dieses Jahr ganz besonders gefreut hat, dass Sie zum Mitglied des PEN Deutschland ernannt worden, kürzlich, also einer Schriftstellervereinigung, die sich ganz besonders für exilierte und verfolgte Autorinnen einsetzt. Ja, jetzt haben wir gehört, Sie haben viele Stationen gehabt. Sie kennen den Gerichtssaal von allen Seiten, als Anwalt, als Staatsanwalt, als Richter. Vielleicht können Sie einmal kurz für das Publikum, sozusagen auf der funktionalen Ebene, uns erklären, was diese unterschiedlichen Rollen bedeuten, vielleicht auch für Sie persönlich bedeutet haben. Und dann würde mich interessieren, wenn Sie an Ihren ersten Fall als Jugendrichter denken, gab es da einen Fall, einen Moment, eine Geschichte, an die Sie sich bis heute besonders erinnern?

Alessandro Bellardita: Ja, also die Geschichte. kann tatsächlich… die kann man nicht vergessen, weil sie auch der Grund ist, wieso ich meinen ersten Kriminalroman geschrieben habe, wo es tatsächlich um Wahrheit im Recht geht. Es war eine Geschichte, die mich deswegen sehr, sehr beschäftigt hat, weil ich tatsächlich beinahe einen riesen Fehler gemacht hätte. Weil wir es mit einer sehr jungen Frau zu tun hatten, die tatsächlich eines der schwerwiegendsten Vorwürfe überhaupt erhoben hatte, nämlich gegenüber ihrem Vater. Und da ging es um den Vorwurf der Vergewaltigung tatsächlich. Und die Frage, die ich klären musste in dem Kontext war, erlasse ich einen Haftbefehl oder nicht? Und wenn man im Prinzip die einzige Möglichkeit hat, das zu überprüfen und die Möglichkeit darin besteht, dieses Mädchen zu befragen und man am Ende den Eindruck hat, okay, das könnte genauso abgelaufen sein, dann allerdings wiederum feststellt, dass an bestimmten Punkten, vor allem, wenn es dann um Beschreibung von Körperteilen ging, das Mädchen gesagt hat, weiß ich nicht, kann ich nicht beschreiben und gerade das eigentlich ja fast dafürspricht, dass das Wahrheit ist, was sie gesagt hat. Und dann noch mal in sich geht und überlegt, wie kann man trotzdem diese Tragödie ja im Endeffekt doch irgendwie aufweichen. Man überlegt und überlegt und am Ende sagt, okay, die einzige Möglichkeit ist mal das vermeintliche Opfer erst mal von der Familie zu trennen. Und das haben wir dann gemacht. Das war eine konzertierte Entscheidung dann. Zum Glück gibt es das Jugendamt mit den entsprechenden Institutionen. Und am Ende hat sich herausgestellt, dass das leider alles erfunden war. Was heißt leider? Also, dass diese Tat nicht geschehen ist, war gut. Aber das war natürlich dann die Tragödie nach der Tragödie. Und für mich war dieser Fall deswegen wichtig, weil ich zum ersten Mal ja mit der Frage konfrontiert war: Wie kann ich denn tatsächlich feststellen, ob ein Zeuge die Wahrheit sagt oder nicht? Und wenn man feststellt, dann, dass man einem vierzehnjährigen Mädchen geglaubt hat und man beinahe einen Haftbefehl erlassen hätte, das beschäftigt einen dann lange. Und am Ende bin ich zum Ergebnis gekommen, es gibt eine Wissenschaft der Aussage, es gibt eine Wissenschaft der Vernehmungstechnik, aber bei aller Liebe für Wissenschaft, ja, es gibt nie die Gewissheit, dass man tatsächlich richtig liegt und das Risiko bleibt. Das war meine Erkenntnis im Prinzip in diesem Fall und es hat mich nicht losgelassen und ich hab das tatsächlich dann in diesem Roman verarbeitet. Natürlich anders, die Geschichte im Roman hat gar nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun, aber das war tatsächlich der Anlass.

Anna Sophia Nübling:

Ja, ich glaub, da steckt vieles drin oder manches drin, auf das wir im Verlauf des Gesprächs noch mal kommen werden.

Alessandro Bellardita: Das war jetzt ein ziemlich eiskalter Einstieg.

Anna Sophia Nübling:

Genau, Sie wissen jetzt, worum es geht heute Abend. Sie haben jetzt auf meine erste Frage gar nicht geantwortet zu den unterschiedlichen Rollen. Wollen Sie dazu noch kurz was sagen, sozusagen, um uns einfach einmal kurz zu orientieren?

Alessandro Bellardita: Ich muss mich auch immer orientieren, ja, weil ich tatsächlich als Richter, Staatsanwalt, Anwalt tatsächlich alle Rollen gespielt habe, sozusagen. Und es sind ja wirklich Rollen, ja, also es ist zwar keine Schauspielerei, die wir machen, aber faktisch, also wenn man sich den Gerichtssaal anguckt von oben, ja, dann ist es wie ein Theater. Also wir haben sogar Publikum. Der einzige Unterschied ist, das Publikum bei uns erwartet Wahrheit. Das ist im Theater anders und genau das können wir nicht liefern. Ja, und die unterschiedlichen Rollen waren wichtig für mich, damit ich tatsächlich immer versuche, auch die Perspektive der anderen einzunehmen. Ein Verteidiger, eine Verteidigerin hat eine Verteidigungsstrategie. Ein Staatsanwalt möchte natürlich den Anspruch des Staates nicht nur sozusagen dafür zu sorgen, dass jemand bestraft wird, sondern dass etwas, ein Sachverhalt, auch festgelegt gestellt wird, eine Sache einfach einmal festgehalten wird, was passiert ist. Und dann gibt es zum Glück bei uns, bei den Jugendrichtern und Richterinnen, gibt es zum Glück eine Institution, die unheimlich wichtig ist. Das ist die Jugendgerichtshilfe. Das war ich nicht bisher, aber das ist deswegen sehr wichtig, weil die Junggerichtshilfe uns unheimlich dabei hilft, einen Eindruck vom Angeklagten oder vor der Angeklagten zu haben. Und die Vorarbeit, die die Junggerichtshilfe leistet, ist einfach unheimlich wichtig für das gesamte Verfahren. Ein bisschen schizophren muss man tatsächlich dann sein, wenn man so viele Rollen dann in einem Raum hat. Aber das gehört dazu.

Anna Sophia Nübling:

Ja, dann habe ich auch eine Einstiegsfrage an Sie. Und zwar würde mich interessieren, um Sie so ein bisschen kennenzulernen, zu lernen, ob jemand von Ihnen beruflich oder privat schon mal mit dem Thema Jugendkriminalität in Berührung gekommen ist. Und dazu nutzen Sie jetzt gerne Ihre Abstimmungskarten. Die Frage ist bewusst offen gehalten, was kann heißen "in Berührung gekommen"? Natürlich, genau. Also ja heißt ja, ich bin schon mal damit in Berührung gekommen. Nein heißt, bin ich nicht. Und ich muss das für die Hörenden des Podcasts und vielleicht auch für die Anwesenden im Raum einmal kurz verbalisieren. Wir haben eine deutliche Tendenz zu ja, also das lässt mich vermuten, dass einige von Ihnen auch sozusagen mit einem konkreten Interesse vielleicht oder mit bestimmten Erfahrungen hierhin gekommen sind heute. Das ist ja was, was wir vielleicht dann im Gespräch nachher noch, was da noch Raum finden kann. Vielen Dank. Ja, wir haben gesagt, wir wollen über Sinn und Grenzen von Strafen unter anderem sprechen. Können Sie uns erklären, was das Jugendstrafrecht eigentlich will? Also, da gibt es ja einen Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht. Worin besteht dieser Unterschied und warum wird der gemacht?

Alessandro Bellardita: Sehr stark zusammengefasst ist der Unterschied darin zu sehen, dass anders als im Erwachsenenstrafrecht, wir im Jugendstrafrecht versuchen und ich sag das wirklich bewusst versuchen. Es gelingt nicht immer, aber wir versuchen erzieherisch auf die Beteiligten, auf die Angeklagten einzuwirken. Und das funktioniert nur, wenn wir uns mit der Person des Angeklagten, manchmal auch mit der Person der oder des Geschädigten, aber jedenfalls mit dem Angeklagten so auseinandersetzen, dass wir das Gefühl haben am Ende, okay, wir haben jetzt wirklich einen persönlichen Eindruck und das ist quasi die Konsequenz aus der Unterscheidung zwischen Jugendstrafrecht und Erwachsenenstrafrecht. Im Erwachsenenstrafrecht spielt die Vita, die Person, natürlich auch eine Rolle, aber nicht so stark wie bei uns, wo wir wirklich von Anfang anfangen. Bei uns spielt es auch eine Rolle, tatsächlich, ob es schon in der Schwangerschaft Probleme gab, ob es im Kindergarten schon Probleme gab. Und die Fragen stellen wir nicht ohne Grund. Ja, also es gibt einen Grund dafür und genau das zum Beispiel ist auch Aufgabe der Jugendhilfe im Strafrecht, das vorher schon zu sammeln, zu sortieren. Ja, und wir kriegen einen Bericht im Vorfeld, sonst könnten wir das nie im Rahmen einer Hauptverhandlung klären. Ja, und das ist ein ganz, ganz wesentlicher Unterschied. Wie gesagt, es ist ein Versuch, gelingt nicht immer. Aber das Gute ist, im Jugendstrafrecht ist auch ein kleiner Unterschied, der ist eher formeller Natur, auf den ersten Blick ist, dass wir Jugendstrafrichter und Richterinnen tatsächlich auch die Vollstreckung machen. Das heißt, die Akte, nachdem das Urteil rechtskräftig ist, bleibt bei uns. Und dann auch mit Hilfe der Bewährungshelfer, der Sozialarbeiter, der Jugendhilfe, versuchen wir dann auch wirklich, diese Vollstreckung zu begleiten. Bei Erwachsenen ist es so, die Akte geht an die Staatsanwaltschaft und dann hat der Richter eigentlich mit der Akte erstmal gar nichts mehr zu tun. Ist ein ganz, ganz wesentlicher Unterschied.

Anna Sophia Nübling:

Jetzt haben Sie schon so ein bisschen angedeutet, wie das dann konkret abläuft in der in der Praxis, auch welche Akteure, Institutionen da eine Rolle spielen. Können Sie uns da noch ein bisschen mehr darüber erzählen, sozusagen, wie das, welche Mittel das Jugendstrafrecht hat, um diesem Erziehungsgedanken auch Rechnung zu tragen? Wie sieht das konkret aus?

Alessandro Bellardita: Also, die Mittel sind vielfältig. Das ist auch ein wesentlicher Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht. Im Erwachsenenstrafrecht muss man sich das im Prinzip so vorstellen, ich simplifiziere das, aber es ist faktisch so. Man kann am Ende des Tages, wenn jetzt kein Freispruch in Betracht kommt, ja entweder eine Freiheitsstrafe verhängen oder eine Geldstrafe. Und dann geht es meistens bei der Freiheitsstrafe darum, wird die jetzt die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Das heißt, gibt man ihm noch mal eine Chance, dass er sich bewährt oder eben nicht. Das war es, mehr gibt es nicht. Bis auf ganz wenige Ausnahmen. Also auf die brauchen wir jetzt nicht einzugehen, wenn jemand schuldunfähig ist und eine Unterbringung und so weiter. Aber das sind eigentlich die wesentlichen Sachen. Im Jugendstrafrecht, man kann das wirklich auf den Punkt bringen, gibt es wirklich eine breite Palette von Maßnahmen, die alle natürlich ein Ziel haben, bestenfalls Erziehung, erzieherische Einwirkung. Und das geht wirklich von ganz niederschwelligen Geschichten, wie wirklich Gespräch, dass man eine Ermahnung erteilt, bis hin tatsächlich zur Jugendstrafe, was dann im Prinzip nichts anderes ist als wie die Freiheitsstrafe bei Erwachsenen. Nur, das ist wieder ein kleiner Unterschied, nicht im Erwachsenengefängnis, sondern in gesonderten Justizvollzugsanstalten, die spezialisiert sind auf eben die Vollstreckung von Jugendstrafen. Aber diese breite Palette gibt uns die Möglichkeit, natürlich auch, und das ist jetzt das Wichtige, das, was wir an Recht sprechen und Recht jetzt im formalen Sinne, tatsächlich so dem Angeklagten anzupassen, dass wir ein Korsett am Ende haben, was sehr speziell auf diese Person sozusagen ausgerichtet ist. Und wenn das nicht so wäre, wenn wir nicht diese Flexibilität hätten, würden wir da schon scheitern. Und deswegen finde ich es sehr gut, dass wir diese breite Palette haben.

Anna Sophia Nübling:

Und welche Rolle spielen da die, also neben der Justiz, diese Akteure, die Sie schon erwähnt haben, also zum Beispiel die Jugendgerichtshilfe, um sozusagen dieses passgenaue Korsett dann auch schneidern zu können?

Alessandro Bellardita: Die Jugendgerichtshilfe hat im Verfahren im Prinzip zwei wesentliche Beiträge zu leisten, abgesehen davon, dass sie natürlich unheimlich viel an Informationen sammelt, was die Person des Angeklagten oder der Angeklagten angeht. Sie muss im Prinzip einen Vorschlag machen, ob sie meint, dass wenn beispielsweise ein Heranwachsender vor Gericht steht, nur zur Klärung: Jugendlicher ist, jemand, der im Prinzip noch nicht 18 ist, also von 14 bis 18. Und dann haben wir die Heranwachsenden, wo wir im Prinzip nicht unbedingt zwingend Jugendstrafrecht anwenden, aber anwenden können, wenn der Heranwachsende noch einem Jugendlichen sozusagen gleichsteht. Und diese sozusagen Prüfung macht die Jugendhilfe erstmal und sie schlägt vor, ob sie glaubt, dass wir es mit jemandem zu tun haben, auf den erzieherisch noch einzuwirken ist. Das ist der erste Part und dann kommt ein zweites Element dazu. Sie macht einen Vorschlag für die Sanktion, die am Ende in Betracht kommt. Es sei denn, es ist ein Freispruch. Es bleibt immer Vorbehalt. Aber wenn dann eine Verurteilung ist, dann haben wir quasi am Ende, also kurz vor Abschluss der Beweisaufnahme, haben wir den Vorschlag noch der Jugendhilfe, die sagt: Aus unserer Sicht ist es sinnvoll, wenn man mit der Person jetzt wie folgt vorgehen würde. Zum Beispiel Arbeitsstunden, eine Geldauflage, vielleicht eine integrative Maßnahme, also Bingo heißt es hier in Karlsruhe. Es gibt unheimlich viele auch integrative Maßnahmen, wo man dann die Jugendlichen begleitet, zum Beispiel Bewerbungen zu schreiben, eine Alltagsstruktur hinzubekommen, dass sie das Gefühl haben, einen Ansprechpartner zu haben und so weiter. Und da ist diese zweite wichtige Aufgabe der Jugendhilfe ja fundamental im Verfahren, weil, wenn man ehrlich ist, es ist die Institution, die die Angeklagten am besten kennt und vielleicht sogar teilweise Monate, wenn nicht sogar Jahre begleitet, bevor es zur Hauptverhandlung kommt.

Anna Sophia Nübling:

Und wenn die Jugendlichen dann durch so ein Prozess durchgegangen sind, also sie beobachten das ja möglicherweise dann mehr, also währenddessen sowieso, aber möglicherweise auch im Nachgang. Wie erleben Sie das denn, wie wirksam die Mittel sind, die das Jugendstrafrecht zur Verfügung hat? Also diese ganzen Möglichkeiten, die da bestehen, mit Blick auf den erzieherischen Grundgedanken, den Sie skizziert haben. Also wo sind da vielleicht auch Grenzen, die Sie im Berufsalltag erleben?

Alessandro Bellardita: Sagen wir so, wenn wir eine Sanktion aussprechen, dann wissen wir, was wir ausgesprochen haben, aber wir wissen ja nicht, wie es ankommt. Mein persönlicher Idealfall ist, dass wir alle an einem Strang ziehen. Mit Staatsanwaltschaft, mit Verteidigung und Jugendhilfe. Wieso? Was bedeutet Erziehung? Erziehung bedeutet vor allem, dass man ankommt bei demjenigen, wo im Prinzip am Ende das Urteil anzukommen hat. Es hilft gar nichts, wenn Jugendhilfe A sagt, Staatsanwaltschaft B und dann kommt die Verteidigung und sagt C. Und am Ende sage ich D. Da kommt der Jugendliche erst mal gar nicht so richtig mit, weil er sagt, jeder sagt was anderes. Was ist denn wichtig? Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kind und Papa, Mama. Papa sagt A, Mama sagt B und Kind denkt, was soll ich jetzt machen? Ja, und genau das passiert in einem Sitzungssaal. Und deswegen ist der Idealfall eigentlich, dass wir eine konzertierte Entscheidung hinbekommen. Das heißt, eine Entscheidung, die wir alle tragen, mittragen und der Jugendliche, die Jugendliche, das Gefühl hat, dass die alle es gut meinen und dann muss es ja funktionieren. Und jetzt kommt das Besondere im Jugendstrafrecht. Dafür haben wir auch die Vollstreckungsaufgabe. Wenn es nicht klappt, dann haben wir relativ schnell die Mitteilung von Bewährungshilfe, Sozialarbeiter, Jugendhilfe und die ganzen Maßnahmen, die es gibt. dass es eben nicht klappt. Und dann können wir reagieren. Dann gibt es Maßnahmen, wie man reagiert. Das kann auch eine Freiheitsentziehung sein, Ungehorsamsarrest. Aber es kann auch sein, dass wir eine Anhörung noch mal machen und dann vielleicht an der ein oder anderen Stelle einfach die Sanktion nachjustieren müssen, bis es dann klappt. Aber das Wichtige ist, dass im Prinzip die Person den Sitzungssaal verlässt und den Eindruck hat, okay, die meinen es gut mit mir und tatsächlich, jetzt bin ich überzeugt, das ist das Richtige.

Anna Sophia Nübling:

Und wie oft klappt das, würden Sie sagen?

Alessandro Bellardita: Tatsächlich, es mag überraschen, aber es klappt tatsächlich gar nicht mal so selten, sondern eher häufig und meine Erfahrung tatsächlich ist, wenn es klappt, also wenn dieser Idealfall eintritt, dass wir in der Vollstreckung weniger Probleme haben.

Anna Sophia Nübling:

Vielleicht mehr oder weniger sagen, ja Wechsel von der von der Innensicht in die Außensicht. Kinder und Jugendkriminalität ist ja immer wieder auch so ein mediales oder politisches Aufregerthema. Also in der Presse hat zuletzt gerade jetzt in den letzten Tagen eine Studie für Aufsehen gesorgt, die an der Uni Köln entstanden ist, die vom Land Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben wurde. Das hat den Hintergrund, dass im Land Nordrhein-Westfalen beobachtet wurde, dass in der Kriminalstatistik im Jahr 2020/21 die Fälle von Jugendkriminalität plötzlich signifikant angestiegen sind und das Land Nordrhein-Westfalen hat untersuchen lassen, was es damit auf sich hat. Und die Studie hat das jetzt eben bestätigt. Und in der Presse war dann von alarmierenden oder erschütternden Befunden die Rede. Allerdings zeigen andere Studien auch, dass eigentlich der Trend ist seit den 90er Jahren, dass die Jugendkriminalität zurückgegangen ist. Bevor ich Sie bitte, diese unterschiedlichen Befunde für uns einmal einzuordnen aus Ihrer Sicht, würde mich interessieren, wie Sie das wahrnehmen. Also ist Jugendkriminalität ein zunehmendes Problem Ihrer Wahrnehmung nach? Da bitte ich wieder um Abstimmung. Ja oder Nein? Ja, da ist jetzt der Befund. Also würde ich sagen, eine Tendenz zu Nein, vereinzelte und sichtbare Ja-Stimmen, aber doch eine Tendenz zu Nein. Was, was würden Sie denn sagen, Herr Bellardita?

Alessandro Bellardita: Das ist schwierig, weil das auch viel mit Gefühl zu tun hat, wenn man versucht, es zu verobjektivieren, da ist wieder Wissenschaft sehr wichtig, dann haben Sie vollkommen recht. Die Tendenz zeigt, langfristig haben wir weniger Jugendkriminalität. Ist ein bisschen so, auch die Wahrnehmung, wenn man mit jungen Leuten zu tun hat, dass sie weniger konfliktreich ist als früher. Also, wenn man sich die 70er Jahre vorstellt, die Jugend, wie sie damals war, wenn man sich die Unis anguckt, aus der damaligen Zeit. Ich hab in Mannheim studiert und die Uni wurde damals zwar saniert, aber erst nachdem ich fast fertig war. Und die ersten Jahre, das war noch so Bauzustand 70er Jahre, wenn man sich die Toiletten angeguckt hat, was die Leute da alles hinterlassen haben und wie heute Jugendliche unterwegs sind, zum Beispiel an der Hochschule für Rechtspflege in Schwetzingen. Neue Gebäude, jetzt inzwischen auch sieben, acht Jahre alt. Nix. Diese Konfliktbereitschaft, die es früher gab, die haben wir tatsächlich, die können wir wirklich, das kann man wirklich feststellen, ist weniger da. Aber was natürlich da ist, und das ist nun mal so bei Jugendkriminalität, das ist die Widerspiegelung sozusagen der Probleme der Gesellschaft, ja der Erwachsenen eigentlich. Das, was wir als Erwachsene als Problem sehen, das nehmen die Jugendlichen auf. Die sind wie ein Schwamm. Und wenn wir das Problem haben, dass wir in einer Leistungsgesellschaft sind, dass wir immer mehr leisten müssen, immer mehr uns beweisen müssen, immer mehr unter Druck stehen. Ja, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn wir immer mehr Kinder, Jugendliche haben, die ADHS zum Beispiel haben, die Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren. Das ist nichts anderes als im Prinzip eine Reflexwirkung. Oder wenn wir beobachten, dass wir eine Gesellschaft haben, die älter wird, wo Menschen sich vielleicht auch verschließen, wo Menschen eine gewisse Sozialphobie, die noch nicht pathologisch ist, aber eine gewisse Sozialphobie entwickeln. Man kann ja nicht mehr rausgehen, diese Unsicherheit und so braucht man sich nicht zu wundern, wenn man dann auch feststellt, dass es viele Jugendliche gibt, die inzwischen sich eben tatsächlich verschließen. Die Japaner haben dafür ein Wort entwickelt: Hikikomori. Ein Phänomen, das im Prinzip dazu führt, dass Kinder, Jugendliche mehr oder weniger eine eigene Innenwelt aufbauen und tatsächlich sich einsperren in dem eigenen Kinderzimmer und nicht mehr rausgehen oder sehr ungern rausgehen. Und das ist auch eine Reflexwirkung. Ja, das heißt, beide Phänomene gehören zusammen. Man kann nicht sagen Jugendkriminalität und Erwachsenenwelt. Es sind nicht zwei verschiedene Parallelwelten, sondern die eine Welt geht in die andere auf und umgekehrt auch.Anna Sophia Nübling:

Sie haben jetzt im Grunde beschrieben, dass sich auch dann die Ursachen für Jugendkriminalität auch verändert haben in den letzten Jahren? Das waren ja jetzt alles so eher neue Phänomene, die sie beschrieben haben. Kann man denn auch Veränderungen in der Qualität der Straftaten beobachten oder also konkret sie in der Praxis?

Alessandro Bellardita: Also wenn man den Medien Glauben schenkt, dann hat man ein bisschen so das Gefühl, dass es draußen eigentlich nur noch Messerstecher gibt. Und das tatsächlich, das ist etwas, man kann das sicherlich verobjektivieren und in einer gewissen Form auch feststellen, aber in den Akten kommt das noch nicht so an, wie das im Prinzip ein bisschen so in den Medien verlautbart wird. Also tatsächlich sehe ich auch nicht das, was immer wieder mal geschrieben wird, dass die Jugend heute brutaler vorgehen würde, dass sehe ich tatsächlich nicht. Wenn man da sich die Zahlen anschaut, die eine der brutalsten Jugend war meine, als ich 13, 14 war. Also da sind tatsächlich die Taten, auch Gewalttaten, wirklich in die Höhe gegangen. Und ich muss sagen, da bin ich ein bisschen befangen, aber ich hatte damals als 13, 14, 15-Jähriger auch nicht das Gefühl, dass wir hier so in der Bronx unterwegs waren. Das heißt, oft sind es auch einfach Phänomene, die registriert werden und dann auch in Medien ein bisschen so hochgekocht werden. Und dann wiederum haben viele Menschen das Gefühl: Ja, das ist es. Ja, das wollte ich. Das habe ich immer schon gedacht. Ob das dann wirklich so ist, das zeigt sich, wenn diese Geschichten dann in den Akten tatsächlich wiederzufinden sind. Diese Wahrnehmung habe ich tatsächlich in der Form nicht.

Anna Sophia Nübling:

Was sind denn dann so Straftaten, mit denen Sie zu tun haben in der Praxis?

Alessandro Bellardita: Die breiteste Palette tatsächlich. Also von der Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung, bis hin zum schweren Raub, über die Vergewaltigung, die zum Glück eher selten ist, ist alles vertreten. Es gibt kein Delikt, wo man jetzt sagt, bis jetzt zum Beispiel auf Erschleichen von Leistung, also das, was man umgangssprachlich als Schwarzfahren bezeichnet, das ist ganz häufig der Fall, aber eher im jugendrichterlichen Bereich, nicht vor dem Jugendschöffenrichter. Da könnte man darüber diskutieren, ob man vielleicht diese Straftat so langsam abschafft. Aus meiner Sicht wäre das endlich an der Zeit, aber ist ein anderes Thema. Klar, in Schulhöfen, Beleidigungen, Körperverletzung, ja meistens zum Glück einfacher Art. Also jetzt nicht gefährlich oder sogar schwere Körperverletzungen. Also die gefährliche Körperverletzung wäre, wenn ich jetzt ein Tatwerkzeug dabei hätte, also zum Beispiel ein Messer im schlimmsten Fall, oder ich habe, was weiß ich, einen Gegenstand, den ich dem anderen nachwerfe. Es kann auch eine Bierflasche sein oder so. Eine schwere Körperverletzung wiederum wäre, wenn tatsächlich die Verletzungen so gravierend sind, dass man sichtbare Narben hat, dass irgendwie, was weiß ich, ein Auge verloren geht oder so was. Das eher nicht, zum Glück. Aber ansonsten, also tatsächlich die breite Palette, ja. Also da kommt alles vor.

Anna Sophia Nübling:

In so Situationen wie der medialen, die ich vorhin beschrieben hab, wird dann auch immer wieder diskutiert, wie Jugendkriminalität zu begegnen ist. Und da bewegen sich die Positionen zwischen auf der einen Seite mehr Härte und auf der anderen Seite mehr Hilfe. Eine beliebte Forderung ist dann immer wieder das Strafmündigkeitsalter zu senken. Das ist jetzt auch in NRW im Kontext dieser Studie aufgetaucht in den letzten Tagen. Und in Schweden zum Beispiel, wenn wir sagen, den Horizont einmal weiten, wurde jetzt kürzlich beschlossen, das Strafmündigkeitsalter tatsächlich für schwere Verbrechen wie Mord und schwere Bombenanschläge zu senken auf 13 Jahre. Da werden also gerade Gefängnisplätze für 13- und 14-Jährige geschaffen in Schweden. Bevor ich Sie frage, was Sie von solchen Vorschlägen und Lösungsansätzen halten, möchte ich Sie gerne dann um ein letztes Stimmungsbild bitten, und zwar, was Sie davon halten, das Strafmündigkeitsalter zu senken. Sind Sie dafür oder dagegen, ja oder nein? Hier ist auch wieder die Tendenz eher zum Nein, allerdings auch mit vereinzelten Ja-Stimmen. Was meinen Sie, ist das ein produktiver Lösungsweg? Was halten Sie von solchen Vorschlägen? Also, oder auch aus der Erfahrung und Ihrer Praxis heraus gesprochen. Ist das, was hilft, härtere Gesetze und mehr Haftstrafen, oder braucht es vielleicht bessere Prävention?Alessandro Bellardita: Wenn ich ehrlich bin, ich hab das Gefühl, dass tatsächlich das. Eher ein Vorschlag aus dem Impetus heraus ist, aus dem Bauchgefühl, ja, weil irgendein Gerechtigkeitssinn dazu führt, dass man immer wieder, das ist so ein bisschen so, so wie so 'ne Achterbahnfahrt, immer mal wieder dann das Bedürfnis hat, für mehr Strafen, für schärfere Strafen zu plädieren. Haben Sie wirklich das Gefühl, dass wir in einer Gesellschaft leben, in denen jüngere Menschen, sagen wir mal so, schon so 11-, 12-, 13-Jährige eine gewisse Verselbständigung erreicht haben, dass wir sagen, okay, sie sind schon reifer, dass tatsächlich es gerechtfertigt wäre, die Strafmündigkeit zu senken. Ich glaube, dass das nicht der Fall ist, dass das ein großer Widerspruch wäre zu der Tatsache, dass die Jugend heute viel behüteter, viel sozusagen in einem engeren Kontext aufwächst und weniger verantwortet wird, weniger man sagt jetzt hast du die und die Aufgabe zu übernehmen, ja auch innerhalb der Familie, sondern man sagt ja auch beispielsweise, dass es also von Sicht der Eltern, ja, dass es wichtig ist, dass man wohlbehütet aufwächst. Dass man, Beispiel Jugendschutz, also Arbeitsregelungen in dem Bereich, würde ja nicht auf die Idee kommen zu sagen, ja es ist gerechtfertigt, dass Kinder schon ab zwölf arbeiten dürften. Aber dann ist es gerechtfertigt, dass man Zwölfjährigen wegsperrt. Ich finde es ist ein großer Wertungswiderspruch tatsächlich und man müsste sich wirklich die Frage stellen: Sind die Kinder heute nicht nur kognitiv weiter, sondern sind sie auch von der Reife her, von der Einsichtsfähigkeit wirklich weiter als vielleicht noch vor zwei, drei Generationen? Und das kann ich tatsächlich nicht feststellen. Also ich finde, der Verselbständigungsprozess hat sich sogar nach hinten verschoben. Weil viel mehr, und was gut ist, viel mehr Menschen studieren, noch länger zu Hause bleiben und so weiter. Und dann wäre es meines Erachtens 'n großer Widerspruch zu sagen: 'Nee, aber…' und wieso kommen die Menschen zu solchen Ideen? Weil es sie selbst nicht betrifft. Weil es dann Einzelfälle sind, wo man sagt: 'Ja, das muss anders geregelt werden, der muss in den Knast.' Aber wenn man sich überlegt, wie schaut es aus zu Hause bei uns, meine Kinder, wie wachsen die auf? Das wäre die eigentliche Frage, die man sich stellen müsste. Und wäre es dann gerechtfertigt zu sagen, dass mein Kind, wenn er irgendwas macht, tatsächlich mit 12 schon im Knast landet? Und ich glaube, dass viele dann sagen würden, dann lieber nicht.

Anna Sophia Nübling:

Sie haben jetzt vorhin bei den Ursachen so ein paar genannt, die so eher zeitgeistig sind. Ich würde gerne noch mal auf eine mögliche Ursache zurückkommen, die Sie jetzt noch nicht genannt haben. Man hört ja oft, dass Jugendliche mit Migrationsgeschichte im Jugendstrafrecht überproportional vertreten sind. Ist das denn so Ihrer Beobachtung nach und wenn ja, wie erklären Sie sich das? Was sind da spezifische, vielleicht noch mal Ursachen für Jugendkriminalität in diesem Kontext?

Alessandro Bellardita: Herkunft ist sicherlich Teil unseres Lebens. Das kann man nicht abstreiten. Aber man darf nicht den Fehler machen, dass man das Leben auf die Herkunft reduziert. Und das wäre der Fehler, wenn man tatsächlich sagen würde, allein die Tatsache, dass man Migrationshintergrund hat, ist quasi ein Faktor, dass man kriminogener unterwegs ist. Also, dass man eher straffällig ist, dass man eher bereit ist, Regeln zu brechen. Das wäre ein Riesenfehler. Man muss sich tatsächlich einfach mit der Frage auseinandersetzen, was für ein Leben hatte dieser Mensch und was sind die sonstigen Faktoren, die vielleicht eben Kriminalität fördern. Und dann stellen wir fest, dass es eigentlich gar nichts mit der Herkunft zu tun hat tatsächlich. Ich bin auch gerade dabei, bin jetzt fast bei Fall 100 gelangt. Ich erfasse sozusagen meine Fälle so statistisch, dass ich versuche, auch tatsächlich daraus Faktoren herauszugewinnen, die für mich wichtig sind, weil es auch immer auch ortsbezogen ist, auch Kriminalitätserfassung. Also Karlsruhe ist anders als jetzt Berlin, Leipzig oder was weiß ich München. Und was sich immer wiederholt, sind andere Faktoren. Ja, und zwar völlig unabhängig von der Nationalität, von der Herkunft, von der Frage, ob wirklich ein Migrationshintergrund da ist oder nicht. Diese Faktoren sind sehr, sehr stark verbunden mit der Frage: Wie sieht es aus in der Familie? Wie fest sind die Familienstrukturen? Gibt es einen Vater, der vielleicht sich getrennt hat von der Mutter? Das ist etwas in einer auch Großstadt absolut Normales. Aber ist der Vater trotz Trennung anwesend? Also ist er quasi in der Abwesenheit anwesend? Auch als Vaterfigur? Umgekehrt, die Mutter, gibt es da Probleme, Bindungen? Wie läuft es mit Bindungen auch außerhalb der Familie? Gibt es da Bezugspersonen, zum Beispiel Großeltern oder so? Je schwieriger die Strukturen sind, umso eher tatsächlich haben wir dann das Problem, dass Menschen neigen zu normabweichendes Verhalten, tatsächlich auch zu Straftaten. Am Anfang eher zu vielleicht kleineren Delikten, die sich dann auch tatsächlich verfestigen können. Und das ist eines der wichtigsten Faktoren. Was auch natürlich eine große Rolle spielt, ist die Frage der Schule, also der Beschulung. Findet Beschulung statt? In welchem Kontext? Klappt das? ist das Verhältnis zu den Lehrern gut oder nicht? Gibt es da Brüche, ja, also im schulischen Werdegang? Es gibt dann auch, was man sehr, sehr stark zusammenfassen kann mit einem Wort. Ich mach das wirklich bewusst, weil das eigentlich sehr kompliziert ist, aber und das ist das Wort Perspektive. Also gibt es eine Perspektive für den jungen Mann oder für die junge Frau? Das heißt, Hat sie ein Ziel, hat diese Person ein Ziel im Leben. Es ist sehr, sehr wichtig, weil ein Ziel im Leben bedeutet, dass man feste Alltagsstrukturen hat, dass man eher dazu geneigt ist, Nein zu sagen zu bestimmten Angeboten, die da draußen einfach da sind. Dass man sagt, okay, ich möchte auf jeden Fall die Berufsausbildung abschließen, deswegen muss ich mich gut verhalten. Perspektive ist ein ganz, ganz wesentliches Wort. Und wieso sage ich das? Weil wir da tatsächlich ein Problem haben, wenn diese Perspektive sich deswegen nicht bilden kann, weil für manche Menschen die Bleibeperspektive ungeklärt ist. Dahingehend als Reflexwirkung haben wir dann das Thema Migration, weil gerade bei solchen Menschen ist es dann so, dass wenn sie nicht wissen, ob sie hier überhaupt bleiben dürfen, dass es dann schwer ist, ihnen zu vermitteln, dass es sich lohnt, eine Perspektive vor der Perspektive trotzdem aufzubauen. Da muss man unheimlich viel Überzeugungsarbeit leisten und leider verliert man diese Menschen. Und ich muss leider konstatieren, dass wir da ein bisschen scheitern tatsächlich. Sprachbarriere spielt natürlich auch eine Rolle, weil erzieherische Maßnahmen setzen natürlich voraus, dass eine Kommunikations- und Vertrauensebene besteht und entsteht, und sie kann nur entstehen, wenn keine Sprachbarriere da ist, wenn man sich gut versteht. Und da bräuchten wir sozusagen eine Unterstützung unserer Institutionen an der Stelle, damit wir überhaupt eine Chance haben. Und wie gesagt, Perspektive ist eigentlich eines der wichtigsten Wörter.

Anna Sophia Nübling:

Ich würde gerne noch auf ein letztes Thema zu sprechen kommen, weil ich eingangs erwähnt habe, dass das auch ein wichtiges Thema für Sie ist, organisierte Kriminalität. Wir haben vorhin schon Schweden erwähnt, da ist ein Faktor für die zunehmende Jugendkriminalität, der jetzt auch auf diese drastische Weise begegnet wurde, dass dort immer mehr Jugendliche Straftaten begehen im Kontext von organisierter Kriminalität, also wirklich angeheuert werden von Banden, Straftaten zu begehen. Vielleicht können Sie ganz kurz uns orientieren: was meinen wir denn, wenn wir von organisierter Kriminalität sprechen? Und wie blicken Sie bei dem Thema Jugendkriminalität und organisierte Kriminalität in die Zukunft? Also ist das, was, Stichwort Schweden, womit wir auch in Deutschland umgehen oder in Zukunft vielleicht umgehen müssen.

Alessandro Bellardita: Das gilt jetzt allgemein, was ich sage. Organisierte Kriminalität, dazu gehört zum Beispiel auch Mafia oder Mafia-ähnliche Clans, ist die Grundlage der Kriminalität überhaupt. Also die organisierte Kriminalität ist die Grundlage der Schattenwelt. Und das muss man erst mal verdauen, weil die eigentliche organisierte Kriminalität, vor allem die Mafia-ähnliche und die Mafia-Kriminalität, eine Seuche ist, die unsichtbar ist. Weil sie im Prinzip Strukturen, die hier schon vorhanden sind, für sich nutzt. Die Drecksarbeit machen die anderen. Und in dieser Arbeit, die die anderen machen, fallen dann unsere Jugendliche rein. Und da müssen wir nachrüsten, weil wir ein bisschen so Neuland betreten, was organisierte Kriminalität angeht, weil bei der Frage organisierte Kriminalität es um die Frage des Vertrauens gegenüber der Gesellschaft geht. Das heißt, wieso verfallen, wieso verfängt sozusagen die organisierte Kriminalität, weil sie im Prinzip das Misstrauen gegenüber der Gesellschaft für sich nutzt. Die geben den Jugendlichen Perspektiven, weil sie sagen, bei uns kannst du sozusagen eine Laufbahn erreichen, wenn du funktionierst. Und da müssen wir rein. Und da haben wir noch tatsächlich viel zu leisten, weil wir mit diesen Strukturen noch nicht so richtig Erfahrung haben. Und wir müssen uns fragen, wie haben andere Länder, die dieses Problem schon länger haben, Damit tatsächlich versucht, dieses Phänomen irgendwie zu bändigen, Stichwort Italien, ja, wo organisierte Kriminalität tradiert ist, wo es wirklich eine verwurzelte, stark verwurzelte organisierte Kriminalität gibt. Und da müsste man sich auch wirklich auf der Ebene der Sozialarbeiter, Sozialarbeiterin bis hin zur Ebene eben Justiz und Gerichte langsam mit der Frage auseinandersetzen, wie wir das hinkriegen. Und wieso ist es wichtig? Weil, wie gesagt, diese organisierten Strukturen sind Meister darin, das auszunutzen, was der Staat an Lücke übriglässt, und zwar knallhart. Da, wo es keine Perspektive gibt, da, wo im Prinzip junge Menschen nicht die Möglichkeit sehen, in staatlichen Institutionen und in einer Gesellschaft anzukommen, da sind diese Leute sofort da und bieten diese Perspektive, die im Prinzip ins Nichts führt, weil irgendwann landen die Leute im Knast und das wollen wir nicht.

Anna Sophia Nübling:

Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Sie zumindest eine Teilantwort auf meine letzte Frage schon gerade gegeben haben. Ich stelle sie trotzdem: In Ihrem Buch "Demokratie und Pluralismus", das ist ja ein sehr deutliches Plädoyer für den Rechtsstaat und für Vielfalt. Wie hat sich denn Ihr Blick auf Demokratie und den Rechtsstaat durch Ihre Arbeit an der Basis im Gerichtssaal verändert?

Alessandro Bellardita: Also, meine Sichtweise hat sich sogar verstärkt, weil im Prinzip ist ja das Jugend-Schöffen-Gericht fast eines der pluralistischsten Gerichtsbarkeiten, die es gibt, weil eben mehrere Interessen zusammenwirken, um ein Ziel zu erreichen, und das ist eigentlich ein Idealfall. Ich bin tatsächlich der Meinung, dass es gar nicht mehr darum geht, irgendwie Vielfalt begründen zu können oder begründen zu wollen, sondern Vielfalt ist unsere Realität. Wir können nicht mehr bestreiten, dass wir eine vielfältige, ein Wort, was viele schon zu hohem Bluthochdruck führt, multikulturelle Gesellschaft sind. Das ist Fakt. Es ist so. Also, wenn man hier rausspaziert und Menschen betrachtet, wenn man Handwerker braucht, ja, wenn man am Bahnhof ist und eine Dienstleistung... Man hat ständig mit Menschen zu tun, die nicht hier geboren wurden oder nicht vielleicht komplett hier sozialisiert wurden. Es ist eine Realität, die Realitätsverweigerer sind die, die glauben, dass wir im Prinzip wieder den Schritt zurück machen können und irgendwo in den 60er, 50er Jahren landen können. Aber die Personen, die müssen mir begründen, was in den 50er, 60er Jahren so wunderbar und schön war. Ja, in einer Gesellschaft, wo es keine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen gab, wo wir ein Gleichberechtigungsgesetz hatten, das ein Witz war, 1957, wo Homosexuelle bestraft wurden, weil sie homosexuell waren. Wo es noch die Prügelstrafe in der Schule gab, bis im Jahr 1974, wo zu Hause Zuchtmittel verwendet werden konnten. Das haben wir erst 2001 verstanden, dass das nicht geht und wo die Vergewaltigung sogar in der Ehe noch absolut erlaubt war. Also wenn man wirklich zurück will, dann muss man wissen, wohin man zurückkommt. Und ich bin der Meinung, man muss die Realität sehen, wie sie ist und mit der Realität arbeiten. Und da haben wir unheimlich viel zu tun, aber wir können es schaffen, Und vor allem können wir es schaffen, weil wir es schaffen müssen.

Anna Sophia Nübling:

Das wäre jetzt ein schönes Schlusswort. Wir sind am Ende des Gesprächs zwischen uns beiden. Vielen Dank, Herr Bellardita, für dieses aufschlussreiche Gespräch über Jugend vor Gericht, Sinn und Grenzen von Strafen und die Einblicke in Ihre Arbeitspraxis, Ihre Perspektiven. Vielen Dank an Sie alle, dass Sie, ich glaube, zum Teil wieder bei uns waren heute Abend. Kommen Sie wieder und kommen Sie jetzt aber erstmal gut in den Abend nach Hause und bis zu einem nächsten Mal.

Marie-Elisabeth Miersch:

Das war 'Let's Talk About Recht', der Life-on-Tape Podcast zur Gesprächsreihe der Stiftung Forum Recht. Schön, dass ihr dabei wart. Wenn euch das Gespräch gefallen hat, hört doch in die anderen Folgen rein. Für mehr Informationen und spannende Einblicke ins Recht, folgt uns auf Instagram oder besucht uns auf unserer Website. Bis zum nächsten Mal.

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